Shanghai – Im Reich der Mitte

Nach meinem Schulabschluss habe ich mich dazu entschieden, erst einmal ein Gap-Year einzulegen, bevor es für mich ans Studium geht. Um die Zeit möglichst sinnvoll zu nutzen, habe ich mich für ein Sprachenjahr entschieden, mit dem ersten Reiseziel Shanghai.

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Da ich mich vorher noch nicht so viel mit China auseinandergesetzt habe und kein Wort Chinesisch sprechen konnte, habe ich vor Abreise einen drei-wöchigen Chinesisch Grundkurs und einen zwei-wöchigen Chinesisch Aufbaukurs am Sinicum in Bochum belegt. Damit wollte ich mich auf den Fall vorbereiten, dass meine Gastfamilie nur Chinesisch spricht.

In Shanghai angekommen, habe ich entdeckt, dass meine Befürchtungen grundlos waren. Meine Gastmutter spricht sehr gut Englisch, sodass ich zu Anfang nicht auf meine brüchigen Chinesisch-Kenntnisse zurückgreifen musste. Allerdings jetzt, nach vier Monaten in China sprechen wir immer noch Englisch miteinander, sodass ich mit meiner Gastfamilie nicht dazu komme Chinesisch zu üben. Grundsätzlich ist mir aufgefallen, dass in Shanghai Chinesen, die Englisch sprechen können, es vorziehen, mit Ausländern auch auf Englisch zu kommunizieren. Das mag am Anfang sehr praktisch sein, da man sich auch ohne Chinesisch verständigen kann, aber man kommt dadurch nicht so häufig dazu,  seine eigenen Chinesisch-Kenntnisse zu überprüfen.

Die Schule – Mandarin House – liegt im Zentrum von Shanghai und ist sehr gut mit der U-Bahn erreichbar. Zu Fuß kommt man sehr schnell zu einem großen Park, in dem man morgens ältere Leute beim Tanzen beobachten kann, oder selbst vom Taiqi-Meister Taiqi lernen kann. Diese Chance habe ich leider noch nicht selbst genutzt, da ich es bisher noch nicht geschafft habe, so früh aufzustehen. Des Weiteren ist ein sehr interessantes Museum über chinesische Geschichte und Kultur in fünf Minuten zu Fuß erreichbar. Auch kann man nach der Schule auf der Nanjing Road, einer der größten Einkaufsstraßen in Shanghai – direkt parallel zu der Straße verläuft, auf der die Schule liegt – bummeln und einkaufen gehen.

Der Unterricht selbst findet in kleinen Gruppen mit höchstens zwölf Schülern statt. Die Lehrer nehmen sich sehr viel Zeit Fragen zu beantworten und sind auch nach dem Unterricht immer ansprechbar. Dadurch, dass die meisten Lehrer sehr jung sind, hat sich mit einigen ein freundschaftliches Verhältnis ausgebildet, sodass sie auch in der Freizeit mit uns Schülern manchmal Essen oder zum Karaoke gehen. Außerdem sind die Lehrer sehr hilfsbereit. Einmal wurde mein Portemonnaie gestohlen, sodass ich weder Geld noch Kreditkarte hatte und mir nicht einmal mehr den Weg nach Hause hätte leisten können. Eine Lehrerin hat mir dann Geld geliehen und mir geholfen, bei der Polizei den Diebstahl anzuzeigen. Und als eine Mitschülerin zum Arzt musste, hat eine andere Lehrerin sie begleitet und übersetzt.

Die Schüler unterhalten sich hier zum größten Teil auf Englisch und auch der Unterricht wird zu Anfang auf Englisch abgehalten. So kann ich hier nicht nur Chinesisch lernen, sondern auch meine Englisch-Kenntnisse ein wenig auffrischen. Allerdings habe ich hier ein paar Freunde, die nicht besonders gut Englisch sprechen, was ihrem Lernen, vor allem zu Anfang,  sehr im Weg stand. Sie mussten immer Wörter im Lexikon nachsehen, sodass sie es deutlich schwerer hatten, als Schüler mit guten Englisch-Kenntnissen. Sobald man ein gewisses Level erreicht hat, ist das aber kein sehr großes Problem mehr, denn dann wird der Unterricht nur noch auf Chinesisch erteilt. Die Vokabeln haben zwar eine englische Übersetzung, werden aber auch von den Lehrern auf Chinesisch erläutert. 

Die Schriftzeichen waren für mich am schwersten zu lernen. Am Anfang schien es mir wie ein Wirrwarr aus verschiedenen Strichen, die ich versuchen musste in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ich erinnere mich an viele frustrierende Versuche, mir die Bedeutung, Schreibweise und Aussprache eines Schriftzeichens zu merken. Doch nach einiger Zeit habe ich mich daran gewöhnt und kann jetzt ganze Texte lesen und schreiben, allerdings bin ich noch weit davon entfernt, eine chinesische Zeitung zu lesen, dafür kenne ich nicht genug Schriftzeichen. Trotzdem ist es für mich schon ein großes Erfolgserlebnis, wenn ich von einigen Artikeln den Inhalt erfassen kann, auch wenn ich nicht alles verstehe.

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Über die chinesische Geschichte und Kultur lernt man in Shanghai zwar auch etwas, aber Shanghai ist hauptsächlich eine moderne, internationale Stadt, in der man im alltäglichen Leben nicht viel darüber lernt. Die Schule bietet zwar sehr viele Aktivitäten zur chinesischen Kultur an, man kann lernen chinesisch zu kochen, chinesische Spiele zu spielen und Kalligraphie wird erklärt. Ansonsten gibt es in Shanghai auch einen traditionellen Garten, der sehr lohnenswert zu besichtigen ist. Doch Shanghai ist hauptsächlich geprägt von modernen Hochhäusern und dient als Wirtschaftszentrum auf dem Festland.  Wenn man sich also hauptsächlich für chinesische Kultur und Geschichte interessiert, ist Shanghai nicht ganz ideal. Ein Aufenthalt in Peking, wo die Schule auch einen Standort hat, ist wahrscheinlich die bessere Wahl, dort gibt es mehr historische Sehenswürdigkeiten.

Obwohl Shanghai in vielerlei Hinsicht europäischen Ländern ähnelt, gibt es doch auch viele Unterschiede. Mit einem Viertel der Einwohnerzahl ganz Deutschlands, beherbergt Shanghai alleine eine ganze Masse an Menschen. Das macht sich vor allem morgens in der U-Bahn bemerkbar, die zur Rush-Hour so überfüllt ist, dass ich mich regelmäßig zwischen anderen Menschen eingequetscht wiederfinde und man auch nicht selten geschubst und gedrückt wird. Einmal habe ich es nicht einmal geschafft an meiner Station auszusteigen, weil zu viele Leute zwischen mir und der U-Bahn-Tür standen und mich nicht rechtzeitig rauslassen konnten.

Daran konnte ich mich aber auch gewöhnen und dafür ist die U-Bahn sehr günstig und schnell und hilft somit sehr über die Größe Shanghais hinweg. Darüber hinaus hilft die U-Bahn, sich so gut wie möglich aus dem öffentlichen Verkehr herauszuhalten, denn hier scheint sich kaum jemand an Verkehrsregeln zu halten. Kaum jemand betätigt hier jemals den Blinker, und ob die Ampeln nun rot oder grün sind, interessiert auch niemanden, es wird nur lautstark gehupt und gehofft, dass alle gut aufpassen. Und das scheint auch ganz gut zu funktionieren, zumindest bin ich noch kein einziges Mal Zeuge eines Unfalls geworden und mit besonderer Vorsicht schaffe ich es auch immer sicher über die Straße, allerdings ist mir die U-Bahn trotzdem deutlich lieber als Fahrrad- oder Autofahren.

Ein weiterer Unterschied ist die Internetzensur. Google, Facebook, YouTube und die meisten E-Mail-Anbieter sind wegen der „großen Firewall“ nicht erreichbar. Das kann man umgehen, indem man sich einen VPN zulegt, oder einfach die zahlreichen chinesischen Pendants nutzt. Nach dem Verlust meiner Kreditkarte, auf die mein VPN lief, fiel die erste Möglichkeit für mich weg und ich habe entdeckt, dass ich die zweite sogar besser finde. Denn mit VPN dauert das Laden von Websites deutlich länger und auf den chinesischen Pendants kann ich zusätzlich noch mein Chinesisch üben.

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Eine Sache, die ich vor meiner Abreise nicht bedacht habe, ist, wie kalt es im Winter in Shanghai wird. Es ist zwar selten unter null Grad, dafür wird aber nicht besonders gut geheizt. In öffentlichen Gebäuden ist es relativ warm, aber in den meisten Privathaushalten wird kaum oder gar nicht geheizt. So kommt es, dass ich zurzeit mit einem 600 Watt Heizlüfter in einem schlecht isolierten Zimmer wohne und die meiste Zeit auch im Haus im Wintermantel herumlaufe. So ist es dann aber auch relativ warm.

Im Herbst zu meiner Ankunft war das aber überhaupt kein Problem, es war sogar bis Ende November noch ziemlich warm. Wenn man allerdings den Winter über in Shanghai bleiben möchte, sollte man ein paar wärmere Sachen mitnehmen.

Im Großen und Ganzen gefällt mir Shanghai aber sehr gut. Mit ein bisschen Offenheit und Kreativität sind die Unterschiede leicht zu überwinden. Außerdem habe ich sehr viel gelernt: wie ich Probleme selbst lösen kann, dass ich in Zukunft besser auf mein Portemonnaie aufpassen sollte, ich habe viele Menschen aus verschiedenen Ländern kennengelernt ( in meiner Klasse mit 10 Schülern, sind 8 Nationalitäten vertreten), ich bin selbstständiger geworden und natürlich – der Grund meines Aufenthaltes – ich habe sehr viel über die Sprache gelernt. Nach vier Monaten in China, kann ich mich mit Chinesen über alltägliche Dinge unterhalten, ich kann Kinderfilme auf Chinesisch schauen und in der Post, in der Bank, in Restaurants verständlich machen, was ich möchte.

Wenn ich jetzt noch mal entscheiden müsste, ob ich nach China kommen würde, hätte ich alles genau so gemacht. Ich habe Freunde aus aller Welt gefunden und die Dinge, die ungewohnt und anders sind, machen meinen Aufenthalt zu einem kleinen Abenteuer. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben in Asien und kann jeden Tag Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen, und gerade das macht meinen Aufenthalt so interessant.

By Isabelle Dombeck

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